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BüBro Offline



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01.03.2013 19:06
Begegnung mit Nazis Antworten

Unter Beschuss
Auszug aus der Autobiografie “Umbruch” des Gubeners Günter Brock

Vorbemerkung:
Der Journalist Günter Brock schrieb mit 35 Jahren, d. h. im Jahr 1969, chronolo-gisch alles auf, woran er sich bis dahin erinnern konnte. Er nannte die Autobiographie “Umbruch“, womit er nicht nur diejenige Phase der Zeitungsherstellung meint, bei der die Materialien einer Ausgabe zu einer Seite gestaltet, also “um-bro-chen“, werden, sondern vor allem den Übergang der Nazizeit zur Nach-kriegszeit. Das Manuskript wurde vom Rostocker Hinstorff-Verlag mit dem Ziel einer eventuellen Drucklegung gelesen, zur Veröffentlichung aber nicht ange-nommen. Der folgende Auszug, trotz veränderter Zeitläufte nicht umgearbeitet, schildert Brocks Erlebnisse im Jahr 1945.


Von östlich der Neiße, die die Stadt seit je in zwei Teile zerschnitt, rückte eines Tages ein Brummen und Grollen heran, das sich nur von sehr nahen und lauten Geräuschen übertönen ließ. Ansonsten war es all-gegenwärtig. Uwe Bark nannte es bei sich “das Grummeln“. Und als das Grummeln immer näher kam, wurde im Gymnasium der Stadt an der Neiße bekanntgegeben:
“Es findet kein Unterricht mehr statt.“
Das muss einer der Lehrer über seine Lippen gebracht haben, einer von denen, die doch so lange vom Endsieg der deutschen Waffen fest überzeugt gewesen waren.
Am nächsten Tag blieb Uwe also zu Hause und starrte den ganzen Vormittag nachdenklich zum Fenster hinaus in den Kiefernwald.
Was war doch mit dem Grummeln für eine sonderbare Zeit angebrochen!
Alle Verwandten und Bekannten waren entweder “nicht mehr da“ oder “noch da“. Die Geschäfte waren “nicht mehr offen“ oder “noch offen“. Wasser und elektrisch Licht “gaben sie“ oder “haben sie wieder mal abgeschaltet“. Und je-den Tag verließ den Bahnhof “ein letzter Zug“.
Typisch war auch, dass es von den Männern der benachbarten Familien, die in der Rüstungsfabrik an der Kaltenborner Straße als “UK“, als “Unabkömmliche“, gearbeitet hatten, immer öfter hieß: “Den haben sie nun auch an die Front ge-schickt“. Seit das mit Uwes Vater auch der Fall war, hatte Mutter das Kommando in der Familie.
Sie gab nun die Anweisung:
“Wir hauen ab.“
Allerdings nicht, ohne Opa und Oma mitzunehmen, die auf dem östlichen Ufer der Neiße wohnten, in dem Gasthofshaus auf dem Osterberg. Aber auch dahin zogen die Barks nicht erst, denn Oma und Opa waren schon ein, zwei Straßen weiter umgesiedelt in eine moderne Beamtenstraße, die nach einem gewissen Eichholz benannt war. Hier wohnte die Familie Helter: Mutters Schwester Hanna, deren Mann Max und zwei Kinder, Cousin und Cousine von Uwe. Dort fand sich die ganze Großfamilie ein.
Das Abhauen verzögerte sich. Es fuhr auf einmal kein “letzter Zug“, und da war das ferne Grummeln ei-nes Morgens die nahen Berge an der Neiße heraufge-zogen. Es hüllte plötzlich die ganze Stadt ein und war auch durch vorbeifah-rende Panzerwagen nicht mehr zu übertönen.
Die Großfamilie fand sich im Keller des Beamtenhauses wieder.
Da stand ein antiquierter Schaukelstuhl, dessen sich Uwe sofort bemächtigte. All die folgenden Tage ver-ließ ihn der Junge kaum einmal, wippte pausenlos, bleich vor Angst, auf und nieder, mal schnell, mal lang-sam, mal ganz sacht, mal wieder stürmisch. Je nach dem Takt des Grummelns da draußen, das nun in Heulen, Pfeifen, Krachen und Bersten überging.
Nur selten stiegen die Barks und die Helters in diesen Tagen die Kellertreppe hinauf. Die Erwachsenen hatten ja alles herangeholt, was für das Kellerleben nötig war: Lebensmittel, Kleidungsstücke, Bettwäsche, Teppiche, Sitz- und Lie-gemöbel.
Das Grummeln kletterte die Berge am östlichen Neiße-Ufer mal diesseits, mal jenseits herauf oder herun-ter. Schwipp-schwapp, kipp-kapp machte der alte Schaukelstuhl.
Uwe war auf Mutter böse. Hatte Vater doch, ehe er “nicht mehr da“ war, ein-dringlich geraten:
“Seht zu, dass ihr hier rechtzeitig abhaut.“
Und so jammerte der Junge jetzt:
“Wenn das Papa wüsste!“
Immer wenn eine Granate nah einschlug und die Kellermauern erzittern ließ, klagte Uwe seine Mutter in dieser Weise an. Vaters vielleicht letztes Wort so in den Wind zu schlagen, wo doch der Bahnhof für sie als Sprucker ganz nah auf der westlichen Seite der Neiße lag!
Eines Abends hielt Uwe mit dem Schaukeln inne. In der Tonleiter des Grum-melns fehlte plötzlich das Kra-chen und Bersten.
Alle die Kellertreppe hinauf, Haustür aufgestoßen, Nase hinaus gesteckt – tat-sächlich, kein Geschoss kre-pierte in der Nähe, kein Soldat weit und breit. Stattdessen an einigen Gartenpforten Gruppen anderer Be-wohner der Eich-holzstraße, auch mit solchen Grummel-Keller-Gesichtern. Spaziergang auf dem Bürger-steig. Am Abendhimmel, über die Köpfe hinweg – Heulen und Pfeifen, Geschosse hinüber, herüber.
“Die Russen sind wohl hinter die Berge zurückgeschlagen, da können sie hier-her nicht einsehen“, belehrte ein Sachkundiger.
“Nein, sie haben die Höhen besetzt und schießen über die Neiße drüber weg“, widersprach ein anderer.
Der Streit blieb unentschieden. Die Kinder erfreuten sich an der Bewegungs-möglichkeit und an der frischen Luft. Erstmals “seit einer Ewigkeit“ wühlten sie sich am Abend mal wieder mit roten Wangen in die klammen Keller-betten.
Am nächsten Morgen machte der Schaukelstuhl wieder sein Schwipp-Schwapp. Schwipp-schwapp machte auch die Stimmung in der Weckglas- und Brotkan-ten-Gemeinschaft. Mal drehte sich alles um die nächste karge Mahlzeit, mal presste alle die Angst vor bebenden Wänden, herabrieselndem Mörtel und klir-renden Fensterscheiben in die kohlenstaubigen Kellerecken.
Eines Tages kam das Gespräch wieder auf das “Abhauen“. Und da zeigte es sich, dass nicht zufällig tage-lang nicht die Rede davon gewesen war. Der Kommandant des Eichholzkellers, der Onkel Max, verriet jetzt nämlich, was er vorhatte:
“Wir werden nicht abhauen. Wohin wir auch flüchten – die Russen kommen so-wieso hin. Und außerdem – wir haben die Sowjets nicht zu fürchten. Die sind Kommunisten. Denen habe ich schon immer ziemlich na-hegestanden. Sie sind für die einfachen Leute, und sind wir etwa Bonzen? Ich weiß schon, warum ich nie in diese NSDAP eingetreten bin...“
Und dann hörte Uwe Bark, Pimpf im Fähnlein Acht, aus welcher Sicht man Kommunisten und Russen auch sehen kann.
“Ich hatte mit den Nazis nie etwas im Sinn,“ drang es nämlich aus zornigem On-kelmund zum Schaukelstuhl hin, “und so kann ich vor die Russen hintreten und sagen, dass ich ein Freund von ihnen bin: Wir nix Nazi! Nur durch hartes Ler-nen habe ich mich bis zum Stadtinspektor emporgearbeitet, nicht durch Protek-tion oder den Geldbeutel des Vaters. Sohn einfacher Leute, habe ich meinen Platz nur durch Können und Wis-sen gegen die Parteigenossen behauptet. Können und Wissen – das zählt bei den Kommunisten...“
Uwe glaubte, er hörte nicht recht. So sollen die Bolschewiken denken? Anderer-seits – Gedanken, wie sie der Onkel da äußerte, kamen ihm sogar vertraut vor. Gewiss, nicht haargenau solche, aber doch sehr ähn-liche...
Und während der Onkel noch weiter agitierte und der Schaukelstuhl sein Schwipp-Schwapp fortsetzte, er-innerte sich Uwe all jener Erlebnisse, die er seit etwa vier Jahren gehabt hatte, seit er mit seiner Familie aus dem Gasthofhaus auf dem Osterberg in einen westlich der Neiße gelegenen Stadtteil gezogen war, der “Sprucke“ genannt wurde und wo lauter solche Leute wie sein Vater wohnten, Leute, die in der großen Rü-stungsfabrik an der Kaltenborner Straße bis zu 14 Stunden am Tage malocht hatten. Die Söhne von denen hatten Uwe gefallen. Sie waren so schön aufsässig. Nicht im großen. Aber für einen frechen Spruch ließen sie sich schon mal von Lehrer Janthur einen überziehen. Riesi-gen Spaß machte es ihnen, zum Pimpfendienst barfuß zu kommen. Wenn der Führer dann schrie: “Fähnlein Acht – stillgestann`!“ und es machte dann nicht laut “Klack“ von den Hacken, dann freuten sie sich, wie der sich ärgerte. Die Sprucker waren eben keine Bonzenkinder wie etwa die von Fähnlein Neun.
Und so sagte jetzt Uwe bei sich – wenn die Kommunisten auch gegen die Bon-zen sind, dann können wir tatsächlich im Keller bleiben. Schon malte er sich aus, wie die ersten Watte-Jacken-Kämpfer mit dem Mes-ser quer im Mund in den Keller stürzen werden, wie aber Onkel Max ihnen entgegengeht, beschwö-rend die Arme hebt und friedensengelhaft ruft:
“Wir – Kommunisti!“ Und schon würden die Bolschewiken die Messer hinter den Gürtel stecken, der Keller-gemeinschaft gütig zulächeln und alle hinters Ohr-läppchen küssen. Seinen Onkel stellte sich Uwe als neuen Bürgermeister vor, der eine lange rote Fahne im Vorgarten zu stehen hat. Sich selbst dachte er die beglückende Aufgabe zu, allen Jungens in der Sprucke zu verkünden, dass die Zeiten von Fähnlein Neun jetzt endgültig vorbei seien.
Aber die hochtrabenden Träume waren schon am nächsten Morgen ausge-träumt. Drei deutsche Soldaten, die sich Handgranaten kreuzweise hinters Kop-pel gesteckt hatten, stapften wie die Gendarmen in den Kel-ler. Dass waren junge, kräftige Kerle. Nicht solche schmutzverschmierten, japsenden Front-schweine wie die Landser, die an den vergangenen Tagen oft auf der Keller-treppe gelegen hatten, mit dem Seitengewehr hastig eine Konservenbüchse aufbrachen, ein paar Fleischbrocken herausklaubten, gierig darauf herum-kauten, so dass sich die dünnen bärtigen Wangen ausbeulten, ehe sie dann schon wieder im Garten hinter dem Haus verschwanden und anderen unsicht-baren Kameraden irgendetwas zuriefen, wie z. B.: “Hier ist der Iwan noch nicht!“
Nein, die drei, das waren Bilderbuchsoldaten, ein paar Kernige und wie Onkel Max hinterher sagte: “Wel-che von der Waffen-SS, Nazis“.
“Alles räumen!“ riefen sie knapp. “Hier kommen Straßenkämpfe. Jedes Haus eine Festung!“
Onkel Max lief rot an. Uwes Mutter stand unschlüssig vor ihren Bündeln. Uwe malte sich aus, was wäre, wenn durch das Kellerfenster eine Handgranate her-einflöge und vor seinem Schaukelstuhl krepierte.
Ähnliches mochten sich wohl auch die Großen vorgestellt haben. Jedenfalls waren Onkels prokommunisti-sche Pläne vergessen.
“Es ist gerade etwas ruhiger geworden,“ lockte einer der drei Kernigen, «da kommen Sie noch weg, über die Brücke...»
Das sprach er in demselben Ton wie man zu einem späten Gast sagt: «Der Regen hat gerade nachgelassen, da kommen Sie noch trocken bis zu Bushaltestelle...»
Der Onkel musste irgendwo einen Leiterwagen aufgetrieben haben, und da warfen nun die Großen ihre Sieben-Sachen bunt durcheinander drauf. Uwe behielt für immer das Bild vor Augen, wie der kleine Treck die Eichholzstraße hinab und in die Teichbornstraße hinein trabte. Links und rechts zerspritzten «Regentropfen» wie einzelne dicke Eisklumpen – es hatte wirklich «nur etwas nachgelassen». In der unteren Serpentine der Teichbornstraße, die zum Neiße-Ufer führte, erblickte Uwe den ersten toten Menschen in seinem Leben. Einen blutigen Toten, einen starr nach den Wolken blickenden Toten, dem die Augen zuzudrücken sich kein Mensch verpflichtet fühlte.
Links brannten Häuser. Die Dachstühle anderer Gebäude erinnerten an Siebgitter, weil sie restlos abgedeckt waren. Dann voraus – schon dicht an der Brücke ein Großbrand. Aus der ganzen Vorderfront des Stadthauses schlugen Flammen und Rauchwolken. Onkel Max´Arbeitsstelle war verloren. Ob er überhaupt hinsah?
Schüsse fielen bis hierher nicht. Statt dessen vielfältige Zurufe, Aufforderungen und der Befehl:
«Dalli, dalli, über die Brücke ´rüber, sie wird gleich gesprengt!»
Besonders laut schrie das ein schmucker, junger Offizier, der Uwe dadurch auffiel, dass er einen blitzsauberen Stahlhelm trug. Bisher hatte der Junge noch nie einen Offizier im Stahlhelm gesehen. Die hatten doch immer Mützen mit weichen, schwungvollen Deckeln auf. Aber die weichen, schwungvollen Zeiten waren wohl vorbei.
Der «Schmucke» stand schon an der Einfahrtkurve zur Brücke. Er wies alle auf die rechte Fahrbahn. Die linke und die rechte Fahrbahn konnte man noch nie so gut unterscheiden wie jetzt – sie waren durch gelbe, grüne, rote und blaue Schnüre getrennt, die von Land her führten, alle zehn oder auch fünfzehn Meter in einen Schacht stürzten und wieder aus ihm empor tauchten, ehe sie in den nächsten Schacht einmündeten.
«Die Zündschnuren,» rief Mutter Bark, «es ist schon alles vorbereitet. Da haben wir Schwein gehabt.»
Also, bloß schnell!
Auf dem anderen Ufer der Neiße ließen sie den Leiterwagen erleichtert ausrollen.
Uwe sah sich um. Hier stand noch fast jeder Stein auf dem anderen. Soldaten spazierten gemächlich einher oder machten sich an Tornistern zu schaffen. Einwohner packten Sachen auf Handwagen, wohl um einen letzten Zug zu erreichen. Andere wieder lehnten an einem Baum und blickten gelassen auf die abgehetzten Flüchtlinge.
Der Krieg – hier war er noch nicht.
Wenig später fand sich Uwe mit Sack und Pack, mit Oma, Opa, Mutter und Brüderchen auf einem offenen LKW wieder, der auf einer waldigen Chaussee ins Hinterland rollte.
Sie fuhren den ganzen Tag.
Am Abend erreichten sie eine kleinere Stadt südwestlich von Kotbus, in die sie aber nicht hineinkamen. Der LKW hielt auf einer Ausfallstraße. Ein Soldat ließ die hintere Verschlagsklappe herunter. Ein Wäschebündel flog ihm wie eine aufgeschreckte weiße Pute ins Gesicht. Das dazu gehörende Gackern besorgten all die Frauen, die nun ihrerseits Bündel, Taschen, Koffer und natürlich die Kleinkinder ergriffen. Das alles wollten sie keinen Augenblick aus den Händen geben, auch beim Absprung von der Ladefläche nicht.
Die Flüchtlinge, wie die Mitglieder der LKW-Ladung nun hießen, wurden in ein großes modernes Gebäude geleitet – das Kino der Kleinstadt.
Niemandem war nach Kino, und es rechnete auch niemand damit, jetzt etwa die «Wochenschau» oder gar den Film «Flüchtlinge» zu sehen, an den sich Uwe gut erinnern konnte, weil er damals zutiefst erschauert war darüber, wie die armen Volksdeutschen von den polnischen Untermenschen gequält und vertrieben wurden. «Wahrlich,» hatten damals viele gesagt, «wird Zeit, dass der Führer da eingreift...»
Der Film, der jetzt lief, hieß «Nachtasyl» und die Barks waren, wenn auch unter «Ferner liefen...» die Darsteller.
Der hohe Saal war halb dunkel erleuchtet oder halb hell verdunkelt, wie es der Luftschutz forderte.
Die Bankreihen waren ausgeräumt. Wo sie gestanden hatten, lagen, hockten oder schlenderten Menschen umher, die den Eindruck machten, als hätten sie sich lange nicht mehr gewaschen, gekämmt oder umgekleidet. Nur manch einer besaß einen Strohsack, ganz wenige eine alte Matratze, die meisten kauerten auf den mitgebrachten Bündeln.
Die Barks fanden nur mit Mühe noch ein Fleckchen, wo sie zumindest niemanden unter oder gar über sich hatten. Noch nie hatte Uwe auf dem Fußboden geschlafen. Schon dass man ihm das ohne ein entschuldigendes Wort zumutete, erschien ihm als die größte Erniedrigung in seinem ganzen bisherigen Leben. So weit war es also gekommen!
An einem der nächsten Tage siedelten die Gubener in Privatwohnungen um und hießen von nun an «Einquartierte». Die Barks kamen in ein sehr ordentliches, blaßgrünes, zweistöckiges Haus gleich neben dem Kino. Mit zwei Töchtern und einem Buben bewohnte eine Offiziersfrau die ganze untere Etage.
Das allerkleinste Zimmer der Familie erhielten die fünf Barks. Sie schliefen auch hier wie im Kino auf dem Fußboden. Mit Ausnahme der Oma. Die bekam die einzige Bettstelle.
Das einzige Gute an dem Zimmer war, dass es ein breites Berliner Fenster zur Straße hatte. Hier sollte Uwe in den folgenden paar Wochen oft stundenlang sitzen, ein Buch aus der Bibliothek des «an der Front stehenden» Hausherrn lesen und die müden Landser der ehemals so stolzen Wehrmacht in Richtung Berlin vorüberziehen sehen. Und wenn dann mal einer der Krieger zu den Kindern herüberblickte, mochte Uwe denken:
«Ja, seht uns nur an, damit ihr wißt, für wen ihr kämpfen müsst.» Andermal aber dachte Uwe auch , nicht zuletzt in Erinnerung an gewisse Onkelreden im Eichholzkeller: »Wo wollt ihr denn bloß noch hin? Die Russen holen euch ja sowieso ein...»
Unterricht fand in dem Städtchen noch statt. Allerdings auch nicht mehr in einer ordnungsgemäßen Schule. Dort lagen Verwundete und Flüchtlinge. Uwe ging mit der sympathischen Offizierstochter Karin in eine Klasse. Aber er war in Gedanken weit weg, döste vor sich hin. Er erinnerte sich später an keinen einzigen Unterrichtsfetzen aus jener Zeit. Aber man ging eben doch «noch» zur Schule.
Wohin jedoch Uwe keine zehn Pferde mehr kriegten, das war das «Jungvolk». Da hatte Onkel Max einen vollen Sieg errungen. Und daran konnte auch der Gubener nichts ändern, den Uwe eines Tages auf der Straße traf – Heinz Barmeister, Hordenführer aus Fähnlein Neun. Der kniff die Augen zusammen und fragte: «Warum kommst du eigentlich nicht zum Dienst?»
Uwe spürte sofort den drohenden Ton heraus. Dieser Hordenführe war eine Macht, und gegenüber der Macht kann man nicht immer ehrlich sein. So antwortete Bark:
«Ich weiß nicht, ob ich mich in ein neues Fähnlein eingewöhnen könnte. Und wozu auch? Wir werden doch bald zurück in Guben sein. Dann komme ich wieder zum Dienst.»
Selten so clever gewesen! Musste Barmeister doch nun befürchten, dass Bark ihm beim geringsten Widerspruch vorhalten könnte, er, Barmeister, glaube nicht daran, dass der Aufenthalt in der kleinen Stadt nur vorübergehend sei, ein kleiner Ausflug sozusagen. Ist da etwa jemand nicht vom Endsieg der deutschen Waffen überzeugt?
So zog Uwe den Kopf aus der Schlinge, aber der stramme Pimpf Barmeister merkte es sich.
Das sollte Bark wenige Tage später zu spüren bekommen.
Er traf Barmeister nämlich zufällig vor dem Kino, wo der mit noch einigen Pimpfen stand, alle im Braunhemd. Sie waren merkwürdig erregt, so dass sie Uwes Neugier weckten. Was hatten die denn? Gab es eine neue Sondermeldung des Oberkommandos der Wehrmacht? Vor Guben etwa der Feind zurückgeschlagen?
Nein, es war etwas ganz anderes. Barmeister rief Uwen entgegen:
«Du warst wohl nicht auf der Großkundgebung in der Stadt? Da hast du was verpasst!»
Und nach einer Atempause:
«Wir gehen zu den Werwölfen! Ich sage dir, das wird was! Die Iwans sollen uns erleben, wenn sie hier einrücken! Kochendes Wasser und Teer gießen wir ihnen über ihre Glatzköppe. Aus jeder Dachluke – Pflastersteine und aus jedem Kellerloch – Panzerfäuste...»
Bark war dicht daran, laut loszulachen und dem vernarrten Kerl den Vogel zu zeigen. Er verkniff es sich. Aber das brennende Stadthaus an der Neiße, die «Regentropfen» auf dem Asphalt der Eichholzstraße und den blutigen Toten auf der Teichbornstraße in Erinnerung, reagierte Bark immer noch unvorsichtig genug, indem er sagte:
»Mein lieber Mann, wenn hier die ersten Granaten in die Dächer krachen, dann denkst du an kein heißes Wasser und an keine Pflastersteine. Das hab ich erlebt. Da ist man froh, wenn man sich nicht gleich in die Hosen macht...»
Er wollte noch mehr sagen, aber da hatte Barmeister schon die Augen zusammengekniffen und Uwen da gepackt, wo die herumstehenden Jungs das schwarze Tuch im Lederknoten trugen. Er schüttelte ihn ein paar mal und schrie dabei wütend:
»Aha, du bist also auch so ein innerer Schweinehund, von denen der Führer sprach. Die kennen wir!»
Uwen wurde himmelangst. Auch die anderen Jungs rückten ihm bedrohlich nahe. Aber sei es, dass Barmeister sich selber seiner Sache nicht ganz sicher oder schon damit zufrieden war, dass Uwe sich so widerstandslos beuteln ließ, jedenfalls – Bark konnte sich losmachen und kam mit einem abgerissenen Hemdenknopf davon.
Kurz danach kam ein Tag, an dem setzte das Grummeln ein.
«Nun kommen die Russen auch hierher,»folgerte die Oma.
Am Stadtrand hatten sie eine Panzersperre gebaut. Uwe amüsierte sich über den Apparat. Mit Holzbalken die russischen Panzer aufhalten! Die sind sogar die Gubener Berge hochgerattert!
Auf dem Feld zwischen dem Offiziershaus und einem in die Stadt hineingewachsenen Bauerngehöft hatten Soldaten begonnen, Gräben und Schützenlöcher auszuheben. Die Männer trugen deutsche Uniformen, hatten aber Mongolengesichter, und von ihnen hörte Bark das erste Mal russische Wörter. Die Mongolengesichter nannten sich Wlassow-Leute. Als sie zu schippen begannen, fragte Uwe sie:
«Was machen Sie denn hier?»
Der eine lachte sarkastisch und radebrechte: »Wir hier unser Grab machen.»
Schon bald ging das Grummeln in Heulen, Krachen und Bersten über, und die Barks saßen wieder im Keller. Diesmal nicht mit Schaukelstuhl und Teppichen. Die Hausbewohner hockten auf Koffern und Kisten an der Wand des Kellergangs entlang, Flüchtlingskind, Offiziersfrau, Oma, Opa, Mädchen und Buben, bereit zum Abhauen, sollten Straßenkämpfe kommen.
Aber die kamen nicht. Stattdessen wurde es Abend und stockdunkel. Nur durch die Milchglasscheibe der Haustür drangen Mondlicht und Feuerschein. Aber auch damit war auf einmal Schluss. Ohrenbetäubendes Rattern, Dröhnen und Knirschen – ein leibhaftiger Panzer fuhr direkt vor die Haustür. Die flog krachend auf, und im nächsten Moment waren – die Russen gekommen.
Drei Kerle – Uwen erschienen sie baumlang – sprangen vom Panzerturm direkt durch die aufgerissene Haustür ohne Zwischenlandung bis in den Kellergang herunter. Von da aus tasteten sie die Deutschen mit einer auf und ab heulenden Taschenlampe und mit der Mpi der Reihe nach ab und hetzten dann geduckt wie Pantherkatzen bis in die äußersten Kellerecken. Dann kamen sie schwatzend und gelockert zurück zum Kellereingang.
Uwes Brüderchen und der Kleine von der Offiziersfrau hatten jämmerlich zu weinen angefangen, und da geschah etwas, was später in viel zu viel Filmen und Büchern heraufbeschworen wurde, aber es geschah wirklich: die Soldaten zeigten die blanken Zähne, lachten und nahmen die beiden Jungs auf den Arm, schaukelten sie und wollten sie beruhigen, was allerdings völlig misslang. Die Bengels schrien wie am Spieß, und die Baumlangen reichten sie den Müttern zurück. Sie sprangen die Kellertreppe hinauf, und der Panzer dröhnte davon.
«Na, die waren ja ganz manierlich,» sagte jemand erleichtert.
Lag der Ton auf «manierlich» oder auf «die»? Er lag auf «die», und das war leider berechtigt...
Die Nähe der Straße, der Rollbahn nach Berlin, war sowohl ein Vorteil wie auch ein Nachteil. Ein Vorteil, weil man hier öfter mal eines der dunklen, schaumig gebackenen russischen Brote ergattern konnte. Ein Nachteil, weil da doch allerhand Volk im erdbraunen Tross fuhr, das sich im Schutz der Dunkelheit sowohl bereichern, als auch verlustieren wollte.
Die Bewohner des Offiziershauses erlebten die unterschiedlichsten Situationen:
Vom rauhen Kommando «Frau, komm!» bis zu weit ausholenden Motivationsbekundungen, die vom Treppenabsatz her den Kellergang entlang- schollen, in mehr oder weniger gebrochenem Deutsch:
«Wir lange von Chause weg, damit schlagen Gitler, sowjetzki Frauen tot, tot von Faschisten, von deutsche Faschisten...»
Der Sinn war derselbe. Angsterfülltes Tuscheln in der Kellerrunde, zuweilen ein Seufzer: «Schon wieder ich!» Die Frauen wechselten einander ab...
An einem hellen Morgen, wohl so vier Tage nachdem das Grummeln in Richtung Berlin weitergezogen war, kam ein kleiner, trotz seines fortgeschrit- tenen Alters noch ganz schwarzhaariger Russki in den Keller. Auf dem Arm hielt er ein scheckiges Kaninchen. Mit der freien Hand winkte er:
«Kinder, kommen!»
Er streichelte das Muckchen und setzte es der Karin auf den Arm. Dann sah er alle verwundert an:
«Warum hier sitzen? Kalt, kalt! Woina kaputt – Gitler kaputt. Kommen, kommen!»
Und er zeigte nach oben zur Straße. Die Kinder gingen als erste hinauf, setzten das Kaninchen ab, rannten ihm hinterher, immer hinterher.
Es war so schön zu laufen, einfach zu laufen, ohne dass es noch grummelte!GB

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